Hermann der Wissenschaftler

Hermann der Lahme und sein Erdmessungsmodell – ein Beitrag von Dipl.-Ing. Manfred Spata, Bonn. Der Artikel stammt aus dem VDVmagazin 6/07 – mit freundlicher Genehmigung von Hr. Manfred Spata.

Einleitung

Hermann der Lahme, Mönch des Klosters zu Reichenau, ist berühmt für seine vielseitigen Schriften zur Astronomie und Mathematik, als Komponist mönchischer Gesänge und als Sequenzendichter, insbesondere von Mariengedichten. Für die Geodäten interessant ist sein konkreter Vorschlag zur Bestimmung der Größe der Erde. Dabei variiert er die Methode des Eratosthenes und schafft eine für das lateinische Abendland praktikable Messmethode.

Hermann der Lahme auf einer Füllkachel des Kachelofens in der Schatzkammer
des Klosters Reichenau (Berschin und Hellmann 2005)

Sein Leben

Hermann, genannt der Lahme (Hermannus Contractus, 1013–1054), war Schüler und Mönch des Benediktinerklosters auf der Insel Reichenau. Er galt trotz seiner schweren körperlichen Behinderungen (spastische Lähmung der Hände und Füße) als einer der führenden Köpfe seiner Zeit. Hermann wurde als eines von insgesamt 15 Kindern des Grafen Wolfrad von Altshausen bei Saulgau in Oberschwaben geboren. Als siebenjähriges behindertes Kind kam er in die Klosterschule der Reichenau, wurde etwa mit 30 Jahren zum Priester geweiht und verblieb bis zu seinem Tod auf der Insel. Durch seine Behinderung war Hermann ständig auf die Hilfe Dritter angewiesen. Selbst das Sprechen und Schreiben fiel ihm schwer. Dennoch genoss er die seinerzeit übliche klösterliche Bildung des Quadriviums (Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musiktheorie) und entwickelte sich in mehreren Wissenschaften zu einem herausragenden Gelehrten seiner Zeit. Er hinterließ bedeutende Schriften zur Mathematik, Astronomie, Geschichte und Musik. So schrieb Hermann ein Chronikon, eine in Latein verfasste große Weltchronik von Christi Geburt bis zu seinem eigenen Todesjahr 1054, die von seinem Schüler Berthold von Reichenau bis zum Jahr 1080 fortgesetzt wurde. Hermanns Leichnam wurde nicht auf der Reichenau, sondern in seinem heimatlichen Altshausen beigesetzt, wo seine Reliquie in der Ulrichskapelle der Schlosskirche aufbewahrt ist (Bautz 1990, Berschin und Hellmann 2005, Stadler 1996, Zedler 1735).

Seine Astronomie und Mathematik

Hermanns Beschäftigung mit der Astronomie und Mathematik orientierte sich zunächst an der seinerzeit wichtigsten Frage eines exakten kirchlichen Festkalen-ders. Astronomische Messungen dienten also vornehmlich der Zeitrechnung und der Berechnung des zyklischen Osterfestes. Die astronomischen Kenntnisse des frühen Mittelalters beschränkten sich in der Regel auf den Inhalt der Schrift De natura rerum von Isidor von Sevilla (560/70-636) und auf die Ostertabellen von Beda Venerabilis (672/73–735). In seinem Buch „De Temporum Ratione“ erläutert Beda die von „Dionysius Exiguus“ (um 470–um 540) im Abendland eingeführte Osterberechnung, der er damit zum Durchbruch verhalf. Diesem Werk ist eine Tabelle mit den Osterdatierungen der Jahre 532 bis 1064 beige-fügt. Das nahende Ende der Beda-Ostertabelle mag Hermann zu seiner Schrift „Regulae in computum“, einer Zusammenfassung der kirchlichen Zeitrechnung, angeregt haben. Hierin unterteilt Hermann erstmals die Stunde in die kleinere Einheit von 60 Minuten und revolutionierte damit die mittelalterliche Zeitrechnung. Noch bei Beda war die Stunde in 4 puncta oder in 10 minuta oder in 40 momenta geteilt (Gerick 1992, S. 62).
Die wichtigsten astronomischen Arbeiten Hermanns betreffen das Astrolabium, „Liber de mensura astrolabii“ und „De utili-tatibus astrolabii libri duo“. Im ersten Buch gibt Hermann eine Anleitung zum Bau eines Astrolabiums. Sie war für seine Zeit von hohem praktischen Wert, weil man mit ihrer Hilfe das Messgerät nachbauen konnte, ohne die theoretischen Hintergründe zu verstehen. Die Herstellung eines Astrolabiums verlegt die Projektion der Himmelssphäre auf die flache Metall-scheibe. Die mathematischen Grundlagen dazu waren seit Hipparch (2. Jh. v.C.) in der Antike bekannt.
Die Kenntnis des Astrolabs war erst zu Hermanns Zeit aus arabischen Quellen in lateinischer Übersetzung in Europa bekannt geworden. Ob Hermann selbst die arabische Sprache beherrschte, um die arabische Astronomie aus ihren Quellen zu studieren, ist nicht belegt (Bergmann 1985,
S.11). Die Beschreibungen von Astrolabien gelangten im 8./9. Jahrhundert als arabische Übersetzungen der griechischen Texte in die islamische Kulturwelt. Es wird vermutet, dass Lupitus von Barcelona (2. Hälfte 10. Jh.) auf Wunsch Gerberts von Aurillac (945-1003, 999 Papst Sylvester II.)
984 die lateinische Übersetzung Sententiae astrolabii einer arabischen Sternkunde geschrieben habe. Diese lateinische Quelle von Lupitus und Gerbert hat 50 Jahre später Hermann in Reichenau bereits vorgelegen. Hermanns Konstruktionsbeschreibung trug wesentlich zur Verbreitung des Astrolabs im nachfolgenden Jahrhundert bei. Ohne seine Traktate wäre das Astrolab wohl lange ein unverstandenes fremdes Messgerät geblieben (Bergmann 1985, Berschlin und Hellmann 2005, Gericke 1992). Eine mittelalterliche Darstellung zeigt Hermann mit einem Astrolab in der rechten Hand rechts neben Euklid, der in seiner rechten Hand eine Sphäre und in der linken ein Sehrohr hält.

Hermann (rechts) und Euklid (links) in einer mittelalterlichen Darstellung
(Oxford, Bodleian Library Ashmole 304)

Das zweite Buch „utilitatibus astrolabii“, das ebenfalls im Wesentlichen auf den Schriften von Lupitus und Gerbert beruht, ist von Hermann um einen eigenständigen Anhang in vier Kapiteln ergänzt worden. Das erste Kapitel enthält eine Bauanleitung „einer Uhr für Wanderer“, eine Säulchen-Sonnenuhr mit einem senkrecht stehenden Stab zur Messung des Sonnenschattens. Hermann lieferte die notwendigen Tabellen zur Zeitmessung für den Standort Reichenau mit rund 48 Grad nördlicher Breite (Bergmann 1985, S. 170; Berschin und Hellmann, S. 29.

Sein Erdmessungsmodell

Das Kapitel 2 von Hermanns „utilitatibus astrolabii“ enthält einen originellen Vor-schlag zur Messung des Erdumfangs. Hier-bei beruft sich Hermann auf die Erdmesung des Eratosthenes (ca. 284-202 v. C.), die er über die Gerbert zugeschriebene „Geometria incerti auctoris“ kennengelernt haben mag (Bergmann 1987, S. 110f; Berschin und Hellmann, S. 29). Die Methode des Eratosthenes zur Bestimmung der Erdgröße ist allen Geodäten wohl bekannt. Danach beobachtete er im ptolemäischen Ägypten den Schatten der Sonne in Alexandria am Mittelmeer zur Zeit der Sommersonnenwende, wenn in Syene (heute Assuan) am Wendekreis die Sonne mittags im Zenit steht. Die Länge des Schattens betrug in Alexandria 1/50 des Vollkreises, was nach damaliger Winkeleinheit 1 + 1/5 Hexekosta (1 Hexekosta = 360/60 = 6 Grad) bzw. in heutiger Winkeleinheit 7,2 Grad entspricht (Minow 1999, S. 165; Wirsching 2003, S. 384). Die Entfernung der beiden ungefähr auf demselben Meridian liegen-den Städte war ihm mit 5.000 Stadien bekannt. Folglich ergab sich der Erdumfang zu 50 mal 5.000 Stadien = 250.000 Stadien. Ob Eratosthenes selbst die Entfernung zwischen Alexandria und Syene jemals messen ließ, ist in den antiken Quellen nicht belegt (Bialas 1982, Minow 1999, Schwarz 1975, Wirsching 2003).
Diese Methode des Eratosthenes regte Hermann zu einer einfacheren Lösung an. Sein Vorschlag nutzt das Astrolab als Messinstrument, mit dem man bei klarer Nacht überall den Himmelspol messen kann. Sodann gehe man so lange nach Norden, bis der Himmelspol mit dem Astrolab um 1 Grad verschoben ermittelt wird. Die zwischen beiden Messungen zurückgelegte Wegstrecke in Südnordrichtung ist mit 360 (der Gradeinteilung des Astrolabs und der Erde) zu multiplizieren, um den Umfang der Erdkugel zu erhalten.

Hermann erläutert einem Mitbruder seine Idee zur Bestimmung des Erdumfangs, Kartuschenbild über dem Bücherschrank „Geographie“ in der Stiftsbibliothek St. Gallen Wannenmacher 1762)

Hermanns Idee war genial einfach, weil er sich durch die Beobachtung eines Fixsternes unabhängig machte vom weniger genau bestimmbaren Sonnenstand und weil er eine Messmethode für die geographischen Bereiche des lateinischen Abendlandes fernab des Wendekreises ermöglichte (Bergmann 1985, S. 171; Bergmann 1987, S. 135; Berschin und Hellmann, S. 29).
Ebenfalls von der Lage des nördlichen Wendekreises unabhängig waren Vorschläge zur Erdmessung, die der arabische Gelehrte al-Biruni (973–1048) in seinem Werk „al Qanum al Mascudi“ über die Meridiangradmessung schildert. Beide Male wird das Astrolab eingesetzt, und zwar einmal zur Messung des scheinbaren Horizonts auf einem hohen Berg gegen den natürlichen Horizont (Bialas, S. 63; Minow, S. 162), zum anderen zur Messung der Mittagshöhe in den beiden Punkten des Meridiangradbogens. Die Schriften des arabischen Zeitgenossen waren Hermann wohl noch nicht bekannt, weil er sie nicht erwähnt.
In Kapitel 3 erläutert Hermann die Methode des Eratosthenes und gibt dessen Messwerte an. Hermann nimmt für die Strecke eines 1 Grad langen Breitengradbogens rund 700 Stadien oder 87 römische Meilen an. Nimmt man 1 röm. Meile = 185 m, ergibt sich ein zu messender Meridiangrad-bogen von etwa 128 km. Daraus ergäbe sich nach Hermanns Angaben ein Erdumfang von etwa 46.000 km, was den tatsächlichen Wert von rund 40.000 km unter Berücksichtigung der Astrolabmessgenauigkeit nahe käme (Bergmann 1985, S. 171).
Die Entfernungsmessung zwischen den beiden astronomischen Messstandorten war bei Eratosthenes (Bialas, S. 34) und al-Biruni (Minow, S. 163) ebenso schwierig zu besorgen wie bei Hermann. Denn im nördlichen Bereich der Reichenau besteht keinerlei flaches Gelände, um über eine Entfernung von rund 111 km eine mehr oder weniger gerade Wegstrecke zu überwinden. Wäre Hermann trotz seiner körperlichen Gebrechen in der Lage gewesen, von seinem Kloster Reichenau ausgehend nach Norden eine um 1 Grad veränderte Stellung des Himmelspols zu messen, hätte er bis Böblingen kommen müssen. Er hätte dabei den nördlichen Untersee und Überlinger See sowie die Schwäbische Alb mit Berghöhen über 900 m überwinden müssen. Seine persönlichen Umstände ließen ihm keine Möglichkeit zur praktischen Erprobung dieser Idee.
Hermanns geographische Kenntnisse des Reichenauer Umfeldes waren offen-sichtlich so gut, dass er die geodätisch gleichermaßen denkbare Messrichtung nach Süden gar nicht erst in Erwägung zog. Denn danach hätte er von der Reichenau bis zum nördlichen Fuße des schweizerischen Piz Cavel (2.946 m) wandern müssen und dabei den südlichen Untersee, die Berge des Thurgau, der Toggenburg und der Glarner Alpen mit Berghöhen über 3.000m sowie das Tal des Vorderrheins queren müssen, eine auch heute noch praktisch unmögliche Vorgehensweise.

Schluss

Der Mönch Hermann der Lahme von Reichenau besaß ausgezeichnete Kenntnisse aus griechischen und arabischen Quellen. Über die seinerzeit übliche Lehre des Quadriviums hinaus entwickelte Hermann eigene Ideen zur Frage nach der Bestimmung der Größe der Erdkugel. Sein Messvorschlag ist eine geniale Weiterentwicklung der Methode des Eratosthenes, deren praktische Umsetzung ihm wegen seiner körper-lichen Gebrechen nicht vergönnt war. Hermann ist ein Beleg dafür, dass im „tiefen Mittelalter“ des 11. Jahrhunderts die Klosterschulen in Deutschland das Wissen der Antike und der Araber sehr wohl zu tradieren wussten und auch eigenständig weiterentwickelten.

Literatur

  • Bautz, F. W.: Hermann von Reichenau. Biogra-phisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. II, Hamm 1990, Sp. 751-753.
  • Bergmann, W.: Innovationen im Quadrivium des 10. und 11. Jahrhunderts. Studien zur Einführung von Astrolab und Abakus im lateinischen Mittelalter. Sudhoffs Archiv, Beiheft 26, Stuttgart 1985.
  • Bergmann, W.: Gerbert von Aurillac und die Landvermessung. In: Hartwig Junius (Hg.), Ingenieurvermessung von der Antike bis zur Neuzeit, 3. Symposion zur Vermessungsge-schichte 1987, Stuttgart 1987, S. 108-140.
  • Berschin, W. und Hellmann, M.: Hermann der Lahme. Gelehrter und Dichter (1013-1054). Reichenauer Texte und Bilder (RTB) 11, Zweite Auflage, Heidelberg 2005.
  • Bialas, V.: Erdgestalt, Kosmologie und Weltan-schauung. Stuttgart 1982.
    Gericke, H.: Mathematik im Abendland – von den römischen Feldmessern bis zu Descartes. Wiesbaden 1992.
  • Minow, H.: Al-Biruni und die historischen Meridiangradmessungen. In: Der Vermes-sungsingenieur, 3/1999, S. 161-166.
  • Schwarz, K.P.: Zur Erdmessung des Eratosthenes. In: Allgemeine Vermessungs-Nachrichten (AVN), 1975, S. 1-12.
  • Stadlers Vollständiges Heiligen-Lexikon: Hermann der Lahme (von der Reichenau). Hildesheim 1996.
  • Wirsching, A.: Eratosthenes oder die Ägypter? I n: Der Vermessungsingenieur, 5/2003, S. 380–384.
  • Zedlers Universal-Lexikon: Hermannus Contractus. 12. Bd., Leipzig 1735, Sp. 1717.

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