Astronom

Astrolabium und Erdmessung

ein Beitrag von Dipl.-Ing. Helmut Minow, Dortmund

Hermannus Contractus (Hermann der Lahme von Reichenau, 1013–1054), ein vielseitig gebildeter Mönch des Benediktinerklosters auf der Reichenau, war einer der grössten Gelehrten des Mittelalters. Er war berühmt für seine vielfältigen Schriften insbesondere zu Mathematik und Astronomie, wobei er sich auch mit der Bestimmung der Grösse der Erdkugel befasst hatte. 

Hermannus Contractus (Hermann der Lahme von Reichenau, 1013–1054), un moine très instruit du monastère des Bénédictins à Reichenau fut un des plus grands savants du Moyen Âge. Il était célèbre pour ses nombreux écrits, notamment mathématiques et astronomiques, ceux-ci aussi en rapport avec la détermination de la grandeur du globe. 

Hermannus Contractus (Ermanno paralitico di Reichenau, 1113–1054), un monaco erudito del convento dei Benedettini di Reichenau, era uno dei grandi studiosi del Medioevo. Era famoso per i suoi numerosi scritti sulla matematica e sull’astronomia, e diede istruzioni su come costruire l’astrolabio.

Den Holzschnitt, der Hermann zeigen soll, hat Schedel mehrfach verwendet; das Portrait zeigt aber offenkundig einen dunkelhäutigen Mann.

Drei Länder grenzen heute an den Bodensee

Schweiz, Deutschland, Österreich. Im deutschen Teil des Bodensees befand sich auf der Insel Reichenau die berühmte Benediktiner-Abtei. Seit ihrer Gründung im Jahre 724 beherbergte Reichenau auch eine Schule von Geschichtsschreibern; die Abtei verlor aber seit dem 13. Jahrhundert an Bedeutung.

Ein Leben im Kloster

Hermann wurde als eines der fünfzehn Kinder des Grafen Wolfrad von Altshausen geboren . Hermanns Mutter, die Gräfin Hiltrud, merkte sich die wichtigen Gedenktage der Familie. Von ihr erfuhr Hermann, dass er am 18. Juli 1013 zur Welt gekommen war. Er erlitt bei seiner Geburt einen Schaden, der ihn lebenslang verkrüppelte – eine spastische Lähmung aller Glieder. Er war auf die Hilfsbereitschaft anderer angewiesen. Seine Familie suchte die Abtei Reichenau aus, die für einen Gebrechlichen geeignet erschien:

Hermann wurde im Kloster auf der Reichenau erzogen; er erhielt dort ab 1020 Unterricht in Lesen, Schreiben und Latein. Er wurde Mönch und genoss die damals übliche klösterliche Bildung des Quadriviums (Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie). Mit etwa dreissig Jahren wurde er zum Priester geweiht. Der Weg zur Gelehrsamkeit war damit gewiesen. Die Mönche auf der Reichenau empfanden ihr Dasein als beschaulich und gotterfüllt: sonst hätten sie nicht die herrlichen Miniaturen gemalt. In diese Atmosphäre wuchs der junge Hermann hinein und erlernte im Kloster Fertigkeiten, die vor allem der Schönheit der Liturgie dienten; er dichtete lateinische Lieder und komponierte die Musik dazu; er erfand eine eigene Notenschrift und schrieb ein Buch über Harmonielehre. Von ihm stammt auch eine Weltchronik. Nach seiner Ausbildung wurde Hermann selber Lehrer. Er begeisterte seine Schüler, die aus ganz Europa kamen und seinen Unterricht suchten.

Nicht nur sein Wissen, sondern auch seine Güte und Fröhlichkeit zog die Menschen an. Der Biograf Berthold von der Reichenau berichtet, niemals habe Hermann ein Wort des Unmuts über sein Gebrechen verloren. Hermann blieb bis zu seinem Tode (25. September 1054) auf der Insel. Seine Gebeine wurden aber nicht auf der Reichenau beigesetzt, sondern im heimatlichen Altshausen, in der Ulrichskapelle der Schlosskirche. Altshausen war ein Ort in Oberschwaben, südlich der heutigen Stadt Saulgau, zwischen Bodensee und Donau.

Praktische Anwendung

Neben der Musik war Mathematik Hermanns weiteres Arbeitsgebiet. Er verfasste dazu bedeutende Schriften, die im Mittelalter bekannt und berühmt waren (u.a. ein Geometrie-Lehrbuch); Abschriften sorgten für deren Verbreitung. Zahlreiche Handschriften befinden sich heute in Archiven und Bibliotheken.

Hermann bemerkte, dass es für Gottesdienst und Liturgie nötig war, die Stunden (Gebetszeiten) im Tageslauf genau zu berechnen; man brauchte ein Instrument zur Vermessung der Fixsterne, ein Astrolabium. Aber im Kloster gab es niemand, der so etwas bauen konnte; darum griff Hermann die Anregungen der klösterlichen Praxis auf und bildete sie schöpferisch weiter bis zur Theorie.

Das Astrolabium

Die wichtigsten astronomischen Arbeiten Hermanns betreffen das Astrolabium. Für seine Konstruktionsanleitung «De mensura astrolabii» benutzte er die Kenntnis arabischer Quellen, die ihm in lateinischen Übersetzungen zugänglich waren. Ob Hermann selbst die arabische Sprache beherrschte, ist zweifelhaft. Seine Anleitung beginnt mit den Eingangszeilen: 

«Incipit: Hermannus Christi pauperum peripsima, et philosophorum tironum asello immo limace tardior assecla. B. suo jugeni in Domino salutem.» 

Konstruiert werden die Linien des Äquators, der Wendekreise und des Horizontkreises sowie die 6°-Höhenkreise, dann die Linien der Ungleichen Stunden. Der Limbus ist in je fünf Grade geteilt; die Himmelssphäre wird gleichsam auf die flache Metallscheibe projiziert. Angefügt ist eine Liste mit 27 Fixsternen (mit mediatio und altitudo, entspricht der Rektaszension und der Deklination). Die Rückseite des Astrolabium  

enthält Kalenderdaten sowie das zwölfteilige Sonnenquadrat. Modelle zur Ermessung Sein Traktat «De utitalibus astrolabii» beruht im Wesentlichen ebenfalls auf Schriften des Gerbert von Aurillac (ca. 940–1003) und des Lupitus von Barcelona (ca. 920–990), die arabische Quellen benutzt bzw. übersetzt hatten. Hermann ergänzte seine Schrift um vier eigenständige Kapitel. Sie enthalten die Anleitung zum Bau einer Reisesonnenuhr, der «Säulchen-Sonnenuhr», deren Skalen Hermann mit Hilfe des Astrolabiums konstruiert hatte. Er lieferte dazu die notwendigen Tabellen zur Zeitmessung für den Standort Reichenau (ca. 48° nördliche Breite). Für die Berechnung des Erdumfangs beruft sich Hermann auf die Methode des Eratosthenes; er geht dann auf ein anderes Verfahren ein, das im 9. Jahrhundert von arabischen Gelehrten unter al-Mammun angewandt worden ist: Mit dem Astrolabium solle ein Beobachter in einer klaren Nacht den Himmelspol anpeilen, den Höhenwinkel notieren; dann so lang nach Norden gehen, bis der Himmelspol auf dem Astrolabium sich um ein Grad verschoben zeige. Die zurückgelegte Strecke solle gemessen und mit 360 multipliziert werden. Man erhält dann den Umfang der Erdkugel.

Hermann möchte dieses Verfahren wohl auf seinen Wirkungsort übertragen und praktisch umsetzen; er hat aber die Messung wegen seiner Behinderung nicht selbst durchführen können.

Hermanns Konstruktionsbeschreibung trug zur Verbreitung des Astrolabiums im 11. Jahrhundert bei. Ohne seine Traktate wäre das Astrolabium wohl lange ein unverstandenes Messgerät geblieben. Im «dunklen» Mittelalter wurde in den Bildungsstätten der Klöster das überlieferte Wissensgut der Antike bewahrt und eigenständig weiterentwickelt. Hermann der Lahme ist ein Beleg dafür.

Ein bisschen etwas Kleines, Zerstreutes zur Zeit

ein Beitrag von Helmug A. Mayer-Ehinger, Altshausen, für die Jahresversammlung der Hermannus-Gemeinschaft Altshausen am 16.11.2010

Nie stille steht die Zeit.
Der Augenblick entschwebt,
und den du nicht genutzt,
den hast du nicht gelebt.

Friedrich Rückert

Dieser Spruch von Friedrich Rückert, hunderttausendfach in Poesiealben und Konfirmationsgratulationen verewigt, hat die Lebensentwürfe von Generationen entscheidend geprägt. Wie ein Damoklesschwert schwebte er mahnend und tröstend über der Arbeitswelt des Frühkapitalismus und der Industrialisierung des 19. und 20. Jahrhunderts.
Freilich mahnt schon Paulus im Epheserbrief (5,16): „kaufet die Zeit aus, denn die Tage sind böse“ und ermuntert zur Wachsamkeit eines Lebens im Lichte Christi. Aber wie bekommen wir die Zeit zu fassen?
Hermann dem Lahmen wird die Teilung der Stunde in Minuten zugeschrieben. Gewiss hatte er dabei nicht im Sinne, die Arbeitsleistung des Menschen zu normieren oder gar zu Zeitakkorden zu forcieren, sonst hätte er kaum das Zwölferzahlensystem dafür gewählt , eher das Dezimalsystem. Sein Anliegen war wohl, das Stundengebet der Mönche, das sich ja nach dem Wachtschichtrhythmus des römischen Militärs orientiert hatte, zwar für den klösterlichen Tageslauf zu präzisieren und diesen geschmeidiger zu machen. Priorität hatte vielmehr die Verfeinerung der mathematisch-astronomischen Berechnungsmöglichkeiten und letztendlich die  bewusste Annäherung des jetzt gelebten Augenblickes an die kosmische Zeit, letztlich an den Herzschlag der Schöpfung und des Schöpfers.
Manche von uns erinnern sich noch daran, dass die Kirchturmuhren rund um die Erde verschieden schlugen, nämlich nach dem Sonnenstand. Der Sinn dessen war genau dies, im Einklang mit der Sonne rundum immerzu zur gleichen Zeit das Gotteslob zu pflegen, etwa den Angelus zu beten, und dann war auch die rechte Zeit zum Mittagessen gekommen. (Die Eisenbahn-fahrpläne haben diese Sonnenzeitharmonie verdrängt. Unsere Zeitmessung istheute bei aller Genauigkeit der Atomuhren willkürlich für politisch festgelegte Zonen festgesetzt.)
Ja, was ist es dann mit der Zeit? Der hl. Augustinus von Hippo hat sich’s auch schon gefragt im 11. Buch seiner Confessiones. Wir haben diesen berühmten Text alle schon einmal gehört:“Was ist also Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“(„Aber zuversichtlich behaupte ich zu wissen, dass es vergangene Zeit nicht gäbe, wenn nichts verginge, und nicht zukünftige Zeit, wenn nichts herankäme, und nicht gegenwärtige Zeit, wenn nichts seiend wäre.“)
Was wir also erleben als Jetztzeit, ist ein Zeitpunkt. Und ein Punkt hat keine Ausdehnung.
Und dennoch wollen wir mit Goethes Faust „zum Augenblicke sagen: verweile doch, du bist so schön.“   Ich mache dazu einen kleinen Ausflug und lese -auch wenn es heiter daherkommt-  aus der paradiesischen Utopie „In dem Lande der Pygmäen“ des Siegfried von Vegesack (1953) das Gedicht:

Die Uhr ohne Zifferblatt

In dem Lande der Pygmäen
sind die Uhren ohne Zifferblatt.
So dass, wenn die Zeiger noch so trefflich gehen,
keiner eine Ahnung hat
und weiß,
ob es früh ist oder spät:
denn der Zeiger zeigt
keine Zeit und schweigt,
wenn er noch so unermüdlich geht,
emsig tickend um den leeren Kreis.

Und so ist die Zeit dort ganz geblieben:
Jahr und Tag sind nicht zerrieben
in Minuten, Stunden und Sekunden.

Jedermann ist ungebunden
bei der Arbeit – oder auch beim Lieben,
kann an allen Dingen sich ergötzen,
ohne sich zu hetzen.
Selbst wenn Zwei den ganzen Tag nichts täten,
als sich küssen oder träumen,
könnten sie beim besten Willen nichts versäumen,
sich um keinen Augenblick verspäten.

Rastlos rennt der Zeiger in die Runde
auf der zifferlosen Scheibe.
Doch dem Glücklichen schlägt keine Stunde, 
und wie schnell er auch die Zeit vertreibe, – 
Zeit ist da, ein ungeteilter Haufen: 
volle Jahre, ganze Tage, 
noch von keinem Glockenschlage 
kleingehackt, zerstampft, zerrissen … 

Aber einmal – keiner kann’s im Voraus wissen –  
bleibt der Zeiger plötzlich stehn und schweigt.
Abgelaufen ist die Zeit. 
Und der Zeiger zeigt  
unbeweglich in die Ewigkeit.
***

So sehr uns diese ganz andere Sicht bezaubern mag, sie bringt uns doch unversehens an den entscheidenden Punkt. Hinter unserer Zeit steht Ewigkeit.

Hätte nicht Hermann der Lahme die Stunde in Minuten geteilt, jemand anderes hätte dann irgendwann diese oder eine andere Einteilung entwickelt. Aus welcher Motivation, darüber lässt sich nur spekulieren. Wir beobachten und erleben, wie die Menschen heute länger leben, weniger Lebensarbeitszeit und mehr Freizeit haben, und doch jammern, sie hätten keine Zeit. In der Tat hat sich auch die Einstellung zur Zeit gewandelt, Geschichtsvergessenheit und Zukunftsblindheit blenden den allergrössten Teil unserer Zeitwahrnehmung aus. In die zwar angereicherten Lebensjahre muss alles hineingepackt werden, was sich haben und erleben lässt. Paulus hatte seine Aufforderung zum Auskaufen von Zeit so  nicht verstanden. Zeit wird heute nicht auf dem Hintergrund  von Ewigkeit gesehen. So kann auch der Mensch sich nicht mehr – als einen Gedanken Gottes – von Ewigkeit zu Ewigkeit begreifen.

Die Intention Hermanns zur mathematisch-astronomischen Präzision bringt die Jetztzeit buchstäblich auf einen Punkt von unendlicher Nichtmessbarkeit. Unverrückt zeigt der Zeiger in die Ewigkeit. Sub specie aeternitatis, unter dem Blickwinkel der Ewigkeit wird verständlich, weshalb die Zeitbestimmung (für das Stundengebet z.B.) die Übereinstimmung mit dem Gang des kosmischen Geschehens anstrebt, nämlich dass der Beter selber den Blickwinkel des Ewigen bekommt, sich selbst und alle Welt mit den Augen des Schöpfers sehen kann  und ihm begegnet von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Helmut A.Mayer Ehinger FamOT
9. November 2010