Liebe Schwestern und Brüder in Christus,
als heute vor 969 Jahren der Reichenauer Mönch Hermann seinen Geist aushauchte, ging ein Erdenleben zu Ende, das seinesgleichen suchte. Schon seinen Zeitgenossen galt Hermann von Altshausen als das „miraculum saeculi“, das Wunder seines Zeitalters. Was aber war das tiefste Geheimnis seines Lebens? Wir kommen wohl nicht umhin festzustellen: es war seine Teilhabe am Kreuz Christi, das durch seine schwere körperliche Behinderung und sein zunehmendes Leiden inmitten seines Lebens aufgerichtet war. In Hermannus Contractus begegnet uns gleichsam der leidende Gottesknecht, von welchem einst der Prophet Jesaja sagte: „Er hatte keine schöne und edle Gestalt, sodass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, dass wir Gefallen fanden an ihm, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut“ (Jes 52, 2b.3a).
Das Leben des gekrümmten Mönches, dessen lichterfüllter Geist des Nachts die Unendlichkeiten des Weltalls durchstreifte, war ein Mitgehen des Kreuzwegs Christi. Auf diesem Weg aber hat Hermann Antwort gefunden auf alle Fragen. Auf diesem Weg ist sein ganzes Menschenleben mit all seinen Höhen und Tiefen durchlebt und durchlitten, geheiligt und überwunden worden. Auf diesem Kreuzweg ist ihm der Sinn seines Lebens mit all seinen Verworrenheiten und Dunkelheiten, aber auch mit all seinen Möglichkeiten und Hoffnungen klargeworden. In der Stille seiner Klosterzelle ist in ihm, der schon in ganz jungen Jahren in die Obhut der Mönche gegeben worden war, die Erkenntnis gereift: Das ist der Ruf Gottes an mich; das ist der Weg, auf dem mein Leben zu seinem Ziel gelangt. Und am Ende dieses so leidvollen und zugleich so gesegnetes Weges durfte er begreifen: Es lohnt sich, zu dulden und zu leiden, zu fallen und aufzustehen; es lohnt sich zu leben.
Für Hermann von Altshausen wurde das Mitgehen des Kreuzwegs Christi gleichsam zur Schule seines Lebens; zur Schule, in welcher er die höchste und notwendigste Kunst erlernen konnte: die Kunst eines erfüllten, eines gemeisterten Lebens; eines Lebens, das auch auf den dunkelsten Strecken nie ohne jeden Stern war, der ihm den Weg wies und ihm neue Hoffnung schenkte. In der von ihm so überaus geliebten Gottesmutter, die wie kein zweiter Mensch den Kreuzweg ihres Sohnes durchlitten hatte, konnte Hermann ein strahlendes Zeichen dieser Hoffnung erkennen. „Vita, dulcedo et spes nostra“ nennt er sie in seinem weltberühmt gewordenen Salve Regina: „Unser Leben, unsere Wonne, unsere Hoffnung, sei gegrüßt!“
Und wie die selige Jungfrau einst auf den Ruf Gottes geantwortet hatte mit den Worten: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn. Mir geschehe nach deinem Wort“, so konnte sich auch Hermann von Altshausen in unzähligen durchwachten Nächten durchringen zu seiner Antwort der Ganzhingabe an den göttlichen Willen. Denn er wusste nur allzu gut, dass dies die einzige mögliche Antwort überhaupt war. Er wusste: Gott wollte nicht irgendetwas von ihm, sondern alles. Wer so liebt, dass er seinen eingeborenen Sohn für uns dahingibt, der kann nicht anders, als den ganzen Menschen einzufordern. Liebe erträgt keine Halbheit. Für uns Menschen und um unseres Heiles willen ist Gott, als die Fülle der Zeiten gekommen war, in seine Schöpfung eingestiegen; nicht als Herr, nicht als Richter – nein, als der Liebende, und was noch ergreifender ist: als der Dienende: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45). Und so hinterlässt er uns am Abend vor seinem Sterben sein Testament: Er kniet nieder und wäscht uns die Füße. Und dann stiftet er das Mahl, das uns für alle Zeiten seine Hingabe bis zum Äußersten vor Augen führt: „Nehmt und esst, das ist mein Leib, hingegeben für euch; nehmt und trinkt, das ist mein Blut, vergossen für euch!“ Weil Hermann der Lahme in diesem unbegreiflichen Geschehen nicht nur den Sinn der ganzen Welt, sondern auch den seines eigenen Lebens erkannt hatte, war es für ihn das größte Gnadengeschenk, dass er trotz seiner schweren Behinderung zum Empfang der Priesterweihe zugelassen wurde. Sein Priestertum war erfüllt von der Erkenntnis der Größe, Schönheit und Erhabenheit der Schöpfung Gottes, aber auch ein Priestertum, geläutert im Schmelzofen des Leidens.
In seinem in italienischer Sprache erschienenen Roman über Hermann von Altshausen schildert Davide Rondoni eine durchwachte und durchlittene Nacht auf der Reichenau und lässt uns dabei auch Berthold begegnen, dem treuen Schüler Hermanns. Dort heißt es:
Berthold bleibt wie immer zurück, wie jede Nacht. Um ihn zu betrachten. Sein Gesicht ist mit den Jahren dem einer Ziege ähnlich geworden. Ausgetrocknet. Und doch mit einem wunderbar sanften Ausdruck, wenn die Augen offen sind. Wenn sie geschlossen sind, wie jetzt im Schlaf und Schmerz, gleicht das Gesicht einem Lederrest zum Wegwerfen. Da ist der Geruch von abgebranntem Kerzentalg. Gemeinsam beginnen sie die Gebete zu flüstern. Hermann liegt auf der Seite, ganz verkrümmt. Berthold hat den Rücken an die Wand gelehnt. „Ich bis des Lebens müde“. In Hermann erwächst dieser Gedanke, während die traurig graue Morgendämmerung sich langsam über die großen Tannen erhebt. Der Rippenfellentzündung wegen brennt es ihm beim Atmen. Berthold beschließt die nur halb ausgesprochenen Worte: „Zu dir seufzen wir Kinder Evas, trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen. Wohlan denn, unsere Fürsprecherin, wende deine barmherzigen Augen uns zu und nach diesem Elende zeige uns Jesus, die gebenedeite Frucht deines Leibes..“
Auf der Reichenau weicht die Nacht dem ersten Licht des Tages (Davide Rondoni, Hermann. Una vita storta e santa puntata alle stelle, Verlag Rizzoli).
Dieser zeitgenössische Roman über Hermann den Lahmen führt uns anschaulich vor Augen, wie sehr das Leben unseres einzigartigen Heimatheiligen Mitgehen des Kreuzwegs Christi war, den der Herr vorausgegangen ist zur Erlösung der Welt. Ihm, der diesen Weg für uns leidend, liebend, sterbend gegangen ist, hat Hermann von Altshausen sich mit aller Bereitschaft zur Verfügung gestellt. An diesem seinem Todestag, den wir feiern dürfen als seinen Geburtstag für den Himmel, ruft er auch uns dazu auf. Denn dieser Weg, den der Herr uns vorangegangen ist, ist unser Schicksalsweg; der Weg, auf dem sich unser ewiges Schicksal entscheidet. Auf diesem Weg, liebe Schwestern und Brüder, kann uns der selige Hermann Richtschnur und Kompass sein. Der italienische Journalist Giovanni Figheira sagt es so:
„Hermann ist ein leuchtendes Beispiel dafür, wie ein Mensch Werkzeug der Fruchtbarkeit werden kann, der Kultur und neuer Menschlichkeit, indem er erkennt, dass Gott uns liebt trotz unserer Nichtigkeit und unserer Zerbrechlichkeit. Noch heute als Seliger verehrt, ist er ‚das Vorbild katholischer Heiligkeit‘ (Don Luigi Giussani).“
AMEN.
Pfarrer Christof Mayer