Leben

Das Leben Hermanns des Lahmen

Hermann wurde am 18.07.1013 in Altshausen als Sohn des Grafen Wolferad II. und der Gräfin Hiltrud geboren. 7-jährig kam Hermann auf die Klosterschule der Reichenau. Dort erwies er sich als so guter Schüler, dass er schließlich zum Leiter der Klosterschule aufstieg und wegen seiner überragenden Geistesfähigkeiten von seinen Mitbrüdern als das Wunder des Jahrhunderts bezeichnet wurde. Trotz seiner Behinderung wurde er zum Priester geweiht. Als vielseitiger Gelehrter, Dichter und Musiker ist er in die Geschichte eingegangen. Er starb 1054 und wurde entgegen der benediktinischen „stabilitas loci“ nicht auf der Reichenau, sondern in Altshausen beigesetzt.

Vorfahren und Verwandte

Der heilige Ulrich gilt als der „Spitzenahn“ der Altshauser Grafen. Die väterliche Großmutter Hermanns des Lahmen war eine Großnichte des hl. Ulrich. Ihm sind in Altshausen eine Straße und eine Kapelle (abgegangen) gewidmet. Ulrich wurde um 890 in Augsburg als Sohn des alemannischen Edelings Hupald, des späteren Grafen von Dillingen geboren; Besuch der Klosterschule St. Gallen, 923 Bischofsweihe, beim Angriff der Ungarn 955 leitete Ulrich die Verteidigung der Stadt Augsburg und konnte Otto I. am 10.08 zu einem Sieg über die Ungarn verhelfen.

Unser Wissen über die Grafen von Altshausen, die im 11. Jahrhundert zum schwäbischen Hochadel gehört haben, verdanken wir zum großen Teil Hermann dem Lahmen selbst. Aus seiner Weltchronik und aus dem Reichenauer Verbrüderungsbuch kann man einiges entnehmen. Eine systematische Chronik seiner Familie hat er aber leider nicht verfasst.

Dennoch wissen wir aus seiner erwähnten Weltchronik einiges über seinen Vater, den Grafen Wolferad II. Über Wolferad I schreibt er zum Jahre 1010: „Der ältere Graf Wolferad, mein väterlicher Großvater, ein gnädiger und rechtsbeständiger und unter den Seinigen hochangesehener Mann, starb – schon ein Greis – am 4. März.“ Der Nachruf auf seine Mutter, die zwei Jahre vor ihm verstorben war, enthält sprachliche Parallelen zum Salve Regina. Nach der Verlegung ihres Wohnsitzes von Altshausen nach Isny im Allgäu und später nach Veringen haben sich die zum Hochadel gehörenden Altshauser Grafen in verschiedene Geschlechter geteilt, die aber alle die drei Altshauser Hirschstangen in ihr Wappen übernommen haben. Untrügliches Zeichen für die damalige Bedeutung der Grafen von Altshausen-Veringen.

In den Farben der Hirschstangen unterscheiden sich die Wappen der Familien Wirtenberg, Nellenburg, Veringen und Landau. Die Wirtenberger und Landauer haben schwarz, die Nellenburger blau und die Grafen von Altshausen-Veringen haben rot, bei allen vier Adelsfamilien gleichermaßen auf Gold.

Nachdem die Altshauser Grafen in dem heutigen Geschlecht der Württemberger weiterleben, interessiert besonders die erste Verbindung zwischen den Grafen von Altshausen, die sich ab 1134 nach Veringen nannten. 

Etwa um 1190 nahm Graf Hartmann I. von Wirtenberg eine Veringerin zur Frau (Bertha?). Ihr gemeinsamer Sohn war Hermann, ihr Enkelkind Ulrich der Stifter oder Ulrich mit dem Daumen. Die Namen Ulrich und Hermann gehören zu den herausragenden Gestalten in der Geschichte der Grafen von Altshausen-Veringen. 

Hartmann I. von Grüningen ist Enkelkind des Grafen Hartmann I. von Wirtenberg und älterer Vetter Ulrichs mit dem Daumen. Die beiden wechselten am 5. August 1246 vor der Schlacht bei Frankfurt die Fronten und besiegelten damit das Schicksal König Konrads IV. in Schwaben. Sie konnten sich gewichtige Teile aus der staufischen Konkursmasse sichern. Die Abgabe seiner Herrschaft Altshausen durch Hartmann I. von Grüningen an den Kämmerer Heinrich von Biegenburg geschah also nicht aus finanzieller Not, sondern war eine Umorientierung ins Unterland. Durch die Weitergabe der Herrschaft an den Deutschen Orden war sichergestellt, dass die Grablege in Altshausen weiterhin von einer geistlichen Institution betreut wurde. Damit konnte für die Verstorbenen auch zukünftig gebetet werden, wie es die Benediktiner im 11. Jahrhundert auch für ihren Mitbruder Hermann getan hatten.

Markgröningen, Kirche St. Bartholomäus, Epitaph des Grafen Harmann von Grüningen, verstorben 1280

Neben dem Standardwerk von J. Kerkhoff über die Grafen von Altshausen-Veringen kann man heute auf das 1997 im Kohlhammer- Verlag erschienene Buch: „Das Haus Württemberg, ein biographisches Lexikon“ zurückgreifen. 

Das Werk von Sönke Lorenz, Dieter Mertens und Volker Press liest sich seitenweise wie eine Altshauser Geschichte. Daneben verdient noch besondere Beachtung: „Hie gut Wirtemberg allewege“, Gerhard Raff, DVA, Stgt. 1988

Walter Ebner, Altshausen

Gedanken über die Krankheit Hermanns des Lahmen

Unsere Vorstellungen von der Krankheit Hermanns des Lahmen sind geprägt durch die bestehende Heiligenlegende über Hermann. Hier wird seine Erkrankung als möglichst schwerwiegend dargestellt. Denn umso größer erscheint das Wunder, dass in einem so gebrechlichen Körper ein so lebendiger und produktiver Geist gewohnt hat. 

Das bestätigt auch Dr. Peter Radtke, Autor des Hermann-Dramas „Hermann und Benedikt – das Brot teilen“. Peter Radtke, München, Sprecher der Behinderten in den Medien, erzählt, dass im Laufe seines Lebens seine Erkrankung (Glasknochenkrankheit) immer noch gravierender dargestellt wurde, um seine dennoch erbrachten Leistungen hervorzuheben.  

Hermanns Schüler Berthold schreibt über seinen Lehrer und Mitbruder Hermann: 

„Er war derart durch die Grausamkeit der Natur an den Gliedmaßen verrenkt, dass er sich von der Stelle, auf die man ihn niedersetzte, nicht ohne Hilfe wieder wegbewegen, noch sich auf die eine oder die andere Seite wenden konnte. In einem Tragsessel von seinem Diener niedergesetzt, konnte er kaum gekrümmt sitzen zu irgendwelcher Tätigkeit. In diesem Sessel war dieses nützliche und wundersame Werkzeug der göttlichen Vorsehung, wiewohl er gelähmt an  Zunge, Lippen und Mund, nur gebrochene und kaum verständliche Töne langsam hervorbringen konnte, ein beredter und eifriger Verteidiger seiner Lehrsätze, munter und zierlich in der Rede, äußerst schlagfertig in der Gegenrede und zur Beantwortung von Fragen stets willfährig.“ 

Von einer angeborenen spastischen Behinderung wird in den Romanen über Hermann ausgegangen. Archivalisch lässt sich das aber nicht festmachen. Ab ineunte aetate, also: von Jugend auf, das lässt viele Deutungen zu.  

Als Mediziner bemüht man sich bei diagnostischen Überlegungen, alle bestehenden Symptome einer Erkrankung unter einen Hut zu bekommen, also auf eine einzige Diagnose zurückzuführen.  

Das ist mit der infantilen Cerebralparese, also mit einer angeborenen Störung der Gehirnfunktion, nicht möglich. Hier passt die Sprachbehinderung Hermanns nicht dazu. 

In der Tat gibt es nur eine einzige Erkrankung, die sowohl die „verrenkten Gliedmaßen“ wie auch die Sprachbehinderung Hermanns mit einschließt. Das ist die jugendliche Form der ALS, der amyotrophen Lateralsklerose. Die Erwachsenenform der ALS ist nicht so selten wie man meint. Die jugendliche Form aber ist extrem selten und nicht jeder Neurologe ist ihr in seinem Berufsleben schon begegnet. Die ALS ist eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems mit zunehmender Lähmung der Muskulatur und damit Kontrakturen der Gelenke („verrenkte Gliedmaßen“). Die Erwachsenenform der ALS führt innerhalb weniger Jahre zum Tode. Die jugendliche Form lässt ein Überleben von mehreren Jahrzehnten zu. In der Regel ist es die respiratorische Insuffizienz, die zunehmende Lähmung der Atemmuskulatur, die dem Leben dieser Patienten ein Ende setzt, meist unter dem Bild einer Lungenentzündung.  

Hermanns Schüler Berthold beschreibt exakt die letzten Tage seines Lehrers: 

„Als endlich Gottes Barmherzigkeit seine Seele aus dem traurigen Gefängnis dieser Welt gnädig zu befreien geruhte, bekam er ein Seitenstechen, an dem er zehn Tage lang dahinsiechte unter unaufhörlichen, grausamen Schmerzen der tödlichen Krankheit.“ 

Es war wohl eine Rippfellentzündung, die zu dem schmerzhaften „Seitenstechen“ führte, der Beginn der tödlichen Pleuropneumonie.  

Der Astrophysiker Stephen Hawking (1942- 2018) ist in seinem 21. Lebensjahr an einer ALS erkrankt und hat ein beeindruckendes wissenschaftliches Werk geschaffen. 

Für Prof. Dr. Thomas Meyer, der an der Charité in Berlin eine ALS-Ambulanz leitet, ist die Beschreibung des Krankheitsbildes durch Hermanns Schüler Berthold so typisch für die jugendliche Form der ALS, dass er den Benediktinermönch Berthold als den Erstbeschreiber dieser Erkrankung würdigen möchte. Bisher gilt der Begründer der modernen Neurologie, Jean-Martin Charcot (1825-1893) als Erstbeschreiber. In Ulm/Donau gibt es eine Charcot-Stiftung zugunsten der ALS-Forschung. Dass eine so seltene Erkrankung wie die jugendliche Form der amyotrophen Lateralsklerose Hermann zugeordnet werden konnte, ist der genauen Beschreibung seines Schülers Berthold zu verdanken. So ist es medizinhistorisch richtig, wenn neben dem berühmten Neurologen Charcot, der dieser Krankheit den Namen gegeben hat, gleichberechtigt der Benediktiner Berthold steht, der Erstbeschreiber dieser Krankheit. 

Prof. Meyer ist nun nicht der erste Mediziner, der die Krankheit Hermanns als die jugendliche Form der ALS ansieht, sondern nur der erste, der Hermanns Schüler Berthold als den Erstbeschreiber dieser Krankheit würdigen möchte. 

Von Loris Sturlese (Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Universität Lecce) ist am 27. 02. 19999 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung der Aufsatz „Die Berechnung Gottes – Hermann „der Lahme“ von Reichenau“ erschienen. Hier wird schon die Krankheit Hermanns als jugendliche Form der ALS angesehen.  

Nun gibt es aber noch die Hermann-Legenden aus dem 12. Jahrhundert, die heute in Oxford und Cambridge aufbewahrt werden. Jacques Handschin (*1886 in Moskau, + 1955 in Basel) hat zum ersten Mal auf sie aufmerksam gemacht, deswegen nennt man sie Handschin-Legenden.  

„Es war in Alemannien ein reicher und mächtiger Graf, der einen Sohn namens Hermannus hatte. Als dieser im Knabenalter stand, betrat er eines Tages mit seinen Gefährten zum Spielen den Hain, der das Schloss des Vaters umgab. Während sie da herumgingen, kam unvermutet der Bär seines Vaters und trieb alle seine Kameraden in die Flucht; ihn aber, der der hinterste war, ergriff er mit seinen Tatzen. Da er es mit Bissen nicht tun konnte (er hatte offenbar einen Maulkorb an), drückte und misshandelte der Bär den Jungen aufs grausamste mit Armen und Krallen. Wenn nicht die durch das Geschrei der übrigen Knaben aufgescheuchten Diener von Hermanns Vater herbeigerannt wären, hätte der Bär ihn wohl getötet.“ 

Nach dieser Legende hat Hermann überlebt, blieb aber ein Behinderter. Die relativ genaue Krankheitsbeschreibung von Berthold, insbesondere die Sprachstörung,  lässt sich mit einem Unfall im Kindesalter nicht vereinbaren. Warum ist nun diese Legende erzählt worden? 

Hermanns Schüler Berthold benennt als Ursache für die Krankheit Hermanns die „Grausamkeit der Natur“. Das tun wir heute genauso. Auch lässt Berthold erkennen, dass der Tod seines Lehrers trotz seiner erhaltenen geistigen Leistungsfähigkeit für Hermann eine Erlösung bedeutete. 

Schon 100 Jahre später kann sich das Verhältnis der Gesellschaft zu einem „Krüppel“ völlig verändert haben. Da war es dann nicht mehr die „Grausamkeit der Natur“, sondern zum Beispiel moralische Verfehlungen der Eltern, auf jeden Fall eine zurückliegende Schuld, die zur Geburt eines behinderten Kindes geführt hatten. Diesem Vorwurf war durch die Geschichte mit dem Bären die Spitze genommen.

Aber nicht wegen dieser Bärengeschichte wurden diese Archivalien in Oxford und Cambridge als Legenden bezeichnet, sondern weil in der nächsten Erzählung sich Hermann nachts im Traum gegenüber der Madonna entscheiden musste, ob er als Behinderter mit besonderen Geistesgaben, oder als gesunder, junger hübscher Mann ohne sonstige Talente leben wollte. Hermann entschied sich für die besonderen Geistesgaben. 

Die Legende mit dem Bären war zu Lebzeiten Hermanns nicht notwendig. Seine Autorität auf wissenschaftlichem Gebiet war so groß und seine benediktinischen Mitbrüder waren so aufgeklärt, dass sie nicht danach frugen, ob irgend eine Schuld der Eltern hinter der Krankheit stecken könnte.  

In dem Werk von Hans Oesch „Berno und Hermann von Reichenau als Musiktheoretiker“ kommt der Basler Kinderarzt, Prof. Dr.Adolf Hottinger, zu Wort:

„Da im Stammbaum Hermanns, soweit dies feststellbar ist, keine anderen Missbildungen aufgetreten sind, muss der Bericht Bertholds, wonach die Lähmung seit der Geburt existierte, als objektiv richtig angesehen werden. Hermannus Contractus litt an einer spastischen Tetraplegie, hervorgerufen durch Schädigung des zentralen Neurons. Das Krankheitsbild entspricht dem Symptomenkomplex der sogenannten Little’schen Krankheit. Die wahrscheinlichste Ursache dieses Leidens ist eine Geburtsverletzung. Durch Blutung sind bestimmte motorische Hirnrindenregionen (vordere Zentralwindung oder deren efferente Bahnen) zerstört worden. Unwahrscheinlich ist eine Missbildung dieser Region. Eine Unfallverletzung als Ursache der Little’schen Krankheit kommt dadurch nicht in Betracht, da eine Schädel- oder Hirnverletzung von solcher Stärke bestimmt auch andere lebenswichtige Zentren in Mitleidenschaft gezogen hätte. Der hohe Grad an Intelligenz steht nicht im Widerspruch zur diagnostizierten Krankheit. Die Unheilbarkeit des Leidens bestätigt die Richtigkeit der Diagnose. Mit 41 Jahren hat der Patient ein relativ hohes Alter erreicht. Auch der Bericht vom Sterben, den uns Berthold in seiner Vita vermittelt, spricht durchaus nicht gegen die sogenannte Little’sche Krankheit.“ 

Im Bericht von Prof. Hottinger wird nicht auf die Sprachbehinderung Hermanns eingegangen. Diese ist ein ganz wesentliches Symptom der ALS. Setzt man eine angeborene Tetraplegie, also eine Lähmung an beiden Armen und beiden Beinen, voraus, wie sie Hottinger beschreibt, so bleiben viele Ungereimtheiten im Leben Hermanns unauflösbar. Er wäre als Tetraplegiker mit Sicherheit nicht mit 7 Jahren in einer Klosterschule aufgenommen worden, hätte nicht Lehrer an eben dieser Schule und erst recht nicht Priester werden können.

Das uns überlieferte Leben Hermanns lässt sich aber sehr gut vereinbaren mit einer Erkrankung an der Amyotrophen Lateralsklerose. Beginn der Schulzeit als gesunder Siebenjähriger, Aufnahme als Novize ebenfalls als  noch gesunder Heranwachsender, Aufstieg zum Leiter der Klosterschule zwischen dem 20. und 25. Lebensjahr, also noch vor Beginn der Erkrankung, Weihe zum Priester in einer Phase des Krankheitsstillstandes.  

Wir sollten uns gedanklich mit dieser neuen Diagnose auseinandersetzen, auch wenn damit die Lebensbeschreibung Hermanns in den bisher erschienenen Romanen und Dramen nicht mehr ganz passend ist. 

[1]  Hansjakob Heinrich, Herimann, der Lahme, von der Reichenau. Sein Leben und seine       Wissenschaft (Seite 42), Mainz 1875

[2]  Ian S. Robinson, Die Chroniken Bertholds von Reichenau und Bernolds von Konstanz      1054 – 1100,  Hannover 2003

[3]  Oesch Hans, Berno und Hermann von Reichenau als Musiktheoretiker, Bern 1961

Walter Ebner, Markgröningen  Alle Rechte beim Autor

Fragen und Antworten zu Hermann dem Lahmen

Wer war Hermann der Lahme? 

Hermann der Lahme (*1013 +1054) war Benediktinermönch auf der Insel Reichenau und ist als Universalgenie wegen seiner wissenschaftlichen Arbeiten bis heute unvergessen. 

Warum wurde er „der Lahme“ genannt? 

Er litt an einer seltenen Krankheit, der jugendlichen Form der amyotrophen Lateralsklerose, die üblicherweise zwischen dem 20. und 25. Lebensjahr beginnt und zunehmend zu Lähmungen und Behinderungen führt. Stephen Hawking zum Beispiel, der hochbegabte Astrophysiker, leidet an dieser Krankheit. 

Um welche wissenschaftliche Arbeiten handelt es sich? 

Am bekanntesten wurde Hermann durch seine Weltchronik, zu seiner Zeit die genaueste und umfassendste Chronik von Christi Geburt bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts. Dieses Werk machte ihn für die Mediävisten in der ganzen Welt bis zum heutigen Tag zu einem wichtigen Zeitzeugen. Auch für die Astronomen ist er bis heute eine bekannte Größe. Er hat das Astrolab, eine flache transportable Scheibe zur Messung von Fixsternen und Planeten, in den christlichen Kulturkreis eingeführt und verfeinert. Die Muslime benützten das Astrolab zur Ermittlung der Gebetsrichtung nach Mekka, zur Feststellung der täglichen fünf Gebetszeiten und zur Errechnung des Fastenmonats. 

Durfte denn Hermann der Lahme als christlicher Mönch sich mit den Wissenschaften der „Ungläubigen“ auseinandersetzen?

Offensichtlich hat das keine Schwierigkeiten gemacht. Man muss auch daran denken, dass das Kloster Reichenau die Funktion der späteren Universitäten vorweggenommen hat. Sein Astrolab gab die Möglichkeit, auch Bruchteile von Stunden exakt zu bestimmen. Dies kam dem benediktinischen Leben bezüglich der Festlegung des Stundengebets stark entgegen. Hermann hat mit seinem Lehrbuch der Zeiterrechnung, dem Computus Augiensis, in Europa eine Wandlung des Zeitverständnisses ausgelöst. Und schließlich war das Kloster Reichenau dank Hermanns des Lahmen und seines Abts Berno ein Zentrum für die Musik. Hermann hat eine Notenschrift entwickelt, damit benediktinische Mitbrüder, die von anderen Klöstern zu Besuch auf die Reichenau kamen, mitsingen konnten. Jedes Kloster hatte bis dahin ja seine eigenen Notationen, sodass eine einheitliche Notenschrift ein großer Fortschritt war.

Und hat sich von dieser Notenschrift etwas erhalten? Sie ist vergessen. Etwa um dieselbe Zeit hat Guido von Arezzo, ein Benediktiner aus Oberitalien, eine Notenschrift mit 4 Notenlinien (heute 5 Notenlinien) durchgesetzt. 

Gibt es auch heute noch Historiker, die sich mit Hermann dem Lahmen auseinandersetzen? 

Am bekanntesten wurde Prof. Arno Borst (1925-2007), Mediävist (Mittelalterspezialist) an der Universität Konstanz, die ja nur einen „Steinwurf“ von der Reichenau entfernt liegt. Borst konnte sowohl wissenschaftlich für seine Fachkollegen wie auch populärwissenschaftlich über Hermann den Lahmen schreiben. Am bekanntesten wurde sein Werk „Mönche am Bodensee“. Im Rahmen der Reichenauer Texte und Bilder erschien 2004 im Mattes Verlag Heidelberg von den Professoren Walter Berschin und Martin Hellmann „Hermann der Lahme, Gelehrter und Dichter“Loris Sturlese lehrt Geschichte der Philosophie des Mittelalters an der Universität Lecce in Italien. Er hat sich ausführlich mit Hermann dem Lahmen auseinandergesetzt. 

Solch herausragende Gestalten wie Hermann der Lahme fordern natürlich auch Literaturschaffende heraus. Gibt es Romane oder Dramen über Hermann den Lahmen?

Ja sicher, eine ganze Reihe. Greifbar über den Buchhandel oder über eBay sind von Agnes Herkommer „Herimann der Lahme“, von Calasanz Ziesche „Die letzte Freiheit“ und von Irma Marquart „Insel im Morgenlicht“. Bald 100 Jahre alt ist das Drama von Karl Flesch, dem Inselarzt der Reichenau, „Hermannus Contractus, der Mönch von Reichenau. Ein Lebensbild in vier dramatischen Aufzügen“. Anlass zu dem Werk war das 1200jährige Jubiläum der Klostergründung durch Pirmin.Das Drama „Hermann und Benedikt, das Brot teilen“ wurde 1991 in Regensburg uraufgeführt. Der Autor, Peter Radtke, ist Sprecher der Behinderten in den Medien. Allen jetzt genannten Autoren geht es nicht um eine Annäherung an die historische Wahrheit, sondern um die romanhafte Auseinandersetzung mit der Frage, wie ein so hochgradig Behinderter ein so hochkarätiges Lebenswerk hinterlassen konnte. 

Und da gibt es doch noch eine Arbeit von Pfarrer Heinrich Hansjakob.

Ja, das ist eine große Merkwürdigkeit, dass dieser lebensfrohe, streitbare Geistliche von Hagnau am Bodensee sich mit diesem vergeistigten, hilflosen Benediktinermönch auseinandergesetzt hat. Das kommt daher, dass Hermann kurz vor seinem Tod den Kaiser kritisiert hatte. Das hat dem Pfarrer, der jede Gelegenheit benutzt hat, die Monarchie in Frage zu stellen und der deswegen zweimal einsitzen musste, natürlich sehr imponiert. 

Wird Hermann der Lahme heute nur noch in Altshausen und auf der Reichenau verehrt? 

Überall, wo heute noch Benediktiner wirken oder früher gewirkt haben, auch überall dort, wo heute das Salve Regina gesungen wird, da wird auch Hermanns des Lahmen gedacht. Deswegen findet man Abbildungen von ihm in Kirchen und Klöstern, in Museen, an Schulen und schließlich auch in privaten Haushalten. 

Und eine letzte Frage, eben zu diesem berühmten Mariengebet in lateinischer Sprache, dem Salve Regina, sei gegrüßt Königin. Wie sicher kann Hermann der Lahme als Autor dieses Gebetes angesehen werden?

Einen wissenschaftlichen Beweis gibt es nicht. Aber Hermann der Lahme ist mit Abstand der wahrscheinlichste Autor. Insbesondere durch Sprachvergleich mit Werken, die sicher von Hermann stammen, kommt man zu dieser Aussage. 

Und wird dieses Gebet heute überhaupt noch gesungen oder gebetet?

Sicherlich! In den christlichen Orden wird der gemeinsame Tag in der Regel mit dem Salve Regina beendet. Im Kloster Einsiedeln in der Schweiz singen die Mönche täglich abends nach der Vesper fünfstimmig das Salve Regina. Da füllt sich die Kirche bis auf den letzten Platz. Dazu gibt es eine Vorgeschichte: Der Zisterzienserabt Johannes von Lentsingen musste sein Heimatkloster Maulbronn anno 1546 im nun evangelischen Württemberg verlassen. Er wurde im Kloster Einsiedeln aufgenommen und übergab diesem vor seinem Tod 1000 Gulden mit der Auflage, täglich in der Gnadenkapelle das Salve Regina singen zu lassen. Und so geschieht es bis zum heutigen Tag.